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Niemandsland (von Racha Kirakosian)
Nr. 14: Juli 2006 >>zurück zur Übersicht?

„Du willst doch jetzt nicht etwa schlappmachen? Überlege doch nur einmal, was wir schon alles hinter uns haben – das Visum für Rom, die Polizisten von Milano. Mirsa, ich bitte dich“, flehte er seinen kleinen, etwas dicklichen Freund an, der seinerseits ständig nur auf den Boden guckte und mit den Füßen scharrte.

Mirsa schüttelte den Kopf: „Und was ist, wenn alles umsonst ist?“

„Und was ist, wenn du es nie erfahren wirst, weil du es nicht riskiert hast?“ Er war sich bewusst, was er seinem Freund sagte und dass die Gefahr groß war. Doch der Gedanke, es alleine zu versuchen, machte ihn nervös. Schließlich hatte er doch Mirsa den ganzen Weg von der Heimat bis hierher überzeugen können. Er dachte an seine Familie, am meisten aber an seine kleine Tochter, von der seine Frau geschrieben hatte, dass sie laufen gelernt habe. Alleine wollte er es nicht versuchen. Nein, er musste Mirsa dazu bringen, mitzumachen.

„ Teurer Freund“, setzte er an, „ich schätze deinen Mut, bis hierher mit mir gekommen zu sein. Du bist ein wahrer Held. Dort drüben sind auch deine Frau und deine Kinder, die auf dich warten. Ihr werdet dann endlich wieder gemeinsam ein normales Familienleben führen können. Glaubst du mir das?“

Endlich ließ Mirsa das Grübeln nach und lenkte ein, schließlich müsste er es doch wenigstens probieren. Wer nicht wagt, der hat schon verloren.

Nach einem Zwei-Stunden-Marsch erreichten sie endlich ihr Ziel. Er hatte sich die Silvesternacht ausgesucht. Aus sicherer Entfernung am Waldrand studierte er die Lage. Mirsa war wieder am Füße scharren. Vor ihm die weite Grasfläche, aus der schwarz und zackig der Grenzzaun ragte. Davor, auf ihrer Seite, stand ein klotziges, graues Wachhaus. Gleich vor dem Grenzzaun sah er eine große Tonne.

Er guckte seinen Freund an und sah zusammengezogene Augenbrauen und Lippen, vor der Brust verschränkte Arme und hochgezogene Schultern, in denen der Kopf fast gänzlich versank. Bei diesem Anblick zwang er sich selbst ein Lächeln auf. „Komm schon, Mirsa, entspann dich.“ Dabei schüttelte er seine trainierten, verspannten Arme aus.

Kurze Besprechung, viel Zeit hatte man nicht. Bald würde Mitternacht sein. Langsam pirschten sie sich an den Zaun heran. Keine Worte, nur Blicke. An dem Grenzzaun angekommen, der mit mehreren aufgereihten Stacheldrähten in den Himmel ragte, fasste er sich ein Herz, stand auf und zog Mirsa hoch, der am liebsten ewig auf dem Boden gelegen hätte, ließ ihn auf seine verschränkten Hände steigen und warf ihn mit all seiner Kraft hoch über den Zaun. Ein dumpfer Schlag. Laut, zu laut in der leeren Landschaft, aber der Freund war in Sicherheit.

Dann Sirenen, Flutlicht. So schnell er konnte, rannte er zurück zu dem grauen Wachhaus, verzweifelt. In seinen Ohren dröhnte sein Atem, laut, die Sirenen übertönend. Das Blut nahm er wahr, wie es mit kraftvollen Stößen durch die Adern seiner Beine und Lungen gepresst wurde. Dabei pochte sein Herzschlag schwer in seiner Brust, so langsam, dass es nicht zum Aushalten war.

„ Ich bin, ich will sein“, dachte er schmerzvoll und erinnerte sich an den Albtraum, den er als Kind immer wieder gehabt hatte, vom Verfolgt werden und nicht schnell genug laufen können, daran, wie er nur rückwärts seinen Verfolgern im Traum hatte entkommen können, deren Gesicht für ihn immer im Dunkeln blieb. „Absurd“, dachte er, während er seine Beine wie Kolben auf und ab pumpen sah und das graue Wachhaus einfach nicht schnell genug auf ihn zukam. Später würde er sich wundern, wie er das Haus überhaupt hatte erreichen können, bevor es zu spät war. Er konnte gerade noch erkennen, wie ein Fenster geöffnet wurde, als er sich direkt darunter stellte und die Luft anhielt. Er schloss die Augen und lauschte.

Ein Gewehrlauf. Dieses Geräusch kannte er nur zu gut. „Ich bin“, schoss ihm abermals durch den Kopf. Er versuchte sich zu konzentrieren und schickte ein Stoßgebet in den Himmel. „Heilige Jungfrau Maria, gepriesen bist du, du Mutter Gottes. Bewahre mich, behüte mich. Im Namen Jesu Christi rufe ich dich an, behüte mich, sei mit mir.“ Niemals zuvor hatte er sich Gedanken über diese Worte gemacht, als er sie betete, jetzt hallten sie laut in seiner Seele, schmerzvoll durchzogen sie seinen Körper und bei jedem Wort sah er seine Frau mit ihren gemeinsamen Kindern.

Endlich quietschte über ihm das Fensterscharnier, der Rahmen streifte fast sein Haar, so dass die Wurzeln tief und blitzartig zuckten. Dann Dunkelheit, Atmen – er spürte die raue Oberfläche der Wand, gegen die seine Hände und sein Körper gepresst waren. Er stieß sich ab und rannte los, auf die Tonne zu. Mit einem hohen Sprung schaffte er es auf die Tonne. Von dort aus wollte er den nächsten Sprung über den Zaun wagen, als er merkte, wie seine Füße den Halt verloren, weil die Tonne nach hinten wegglitt. Für einen Moment hielt er alles für verloren, sprang dann aber mit allem Lebenswillen, den er vereinen könnte, über den Zaun und landete unsanft neben seinem Freund, der im hohen Gras dort liegen geblieben war, wo er zuvor aufkam.Wieder die Sirenen, wieder das Licht, aber das alles galt hier jetzt nicht mehr.

Er ließ die Sirenen laut sein und das Licht hell sein. „Komm“, flüsterte Mirsa, „wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Er aber reagierte nicht. „Nun komm doch“, sagte der Freund hektisch und pirschte sich einige Meter voran. Er aber blieb liegen, blieb liegen und genoss Zeit und Raum. „Hier“, dachte er, „hier wünsche ich mir mein Leben. Auf diesem Streifen Land, auf dem niemand abgelehnt, auf dem niemand gefragt wird. Hier werden Suchende den Ort ihrer Rast finden. Ein Streifen zwischen Himmel und Erde, der näher am Paradies ist, weil es Niemandsland ist.“ Dann schreckte er auf, weil er seinen Freund nicht mehr sehen konnte. Er ließ sich Zeit, die letzte Grenze nach Deutschland zu überqueren.

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