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Gerhard Leo
Ein Grenzgänger der Geschichte

Nr. 19: Dezember 2009 >>zurück zur Übersicht?

Innerhalb der antirassistischen Szene Berlins war Gerhard Leo sicherlich einer der Mitstreiter mit dem bewegtesten Leben. Ungefähr zehn Jahre lang besuchte er wöchentlich Gefangene der Abschiebehaft Köpenick; Menschen, die er vor der Abschiebung bewahren wollte: Lumembu Kasenda aus Kongo, Ahmed Bozbacar aus Tunesien, Kwesi Capochichi aus Benin, Kader Vehicle aus Algerien, Cihan Ileras aus der Türkei, Abdel Kader Weriah aus Algerien, Victor Postache aus Moldawien, Zainu Bawal aus dem Sudan, Paul Lones aus dem Sudan, Abdel Hassan Bemuzuone aus Algerien, Ibrahim Kourouma aus Guinea, Atef Baldan aus Tunesien, Brier Ibrahim Musa aus dem Sudan, Ikye Njoku aus Nigeria. Sie gaben ihm seinen letzten Namen: Papa Leo. Davor hatte er viele andere: Gerard Laban, alias Lebert, alias Adrien Pouzargues, alias Jean-Pierre Ariége und natürlich: „Rescapé“, der Gerettete, nachdem ihn Kämpfer der französischen Résistance im Juni 1944 aus der Gefangenschaft der Gestapo befreiten.

Sein Vater Wilhelm Leo hatte als sozialdemokratischer Rechtsanwalt 1927 einen Verleumdungsprozess gegen einen braunen Agitator gewonnen: Joseph Goebbels. Gleich nach der Nacht des Reichstagsbrands wurde er deswegen 1933 inhaftiert. Nach der Entlassung beschreibt Leo die Flucht der jüdisch-assimilierten Familie nach Frankreich als eine Erfahrung, die „paradoxerweise zu meinen angenehmsten Kindheitserinnerungen gehört“. 5.000 Reichsmark zahlte man für einen professionellen Schmuggler. „Daran, wie Menschen vor Verfolgung und Unterdrückung fliehen, hat sich bis heute wenig geändert. Nur, dass die Grenzen noch undurchlässiger geworden sind“, so Gerhard Leo. Der Vater hat einen kleinen Buchladen in Paris. Zwischen Büchern von Anna Seghers, Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch und Lion Feuchtwanger treffen sich deutsche Emigranten.

Während des Zweiten Weltkrieges sind Gerhard Leos Deutschkenntnisse nützlich für die Résistance. Er kommt in die Sektion „Travail Allemand“, die deutsche Soldaten zur Zusammenarbeit oder zum Desertieren aufruft. Dann arbeitet er, der vermeintliche Elsässer, als Übersetzer in der Transportkommandantur der Deutschen Wehrmacht in Toulouse. Aufgrund seiner Informationen verzehnfachte sich die Zahl der Attacken der Résistance gegen Eisenbahntransporte. Dann verteilte er Flugblätter an deutsche Soldaten. Hierbei wurde er verraten, schwer misshandelt und zum Tode verurteilt. Aber der Résistance gelang es, ihn bei einem Gefangenentransport zu befreien.

Nach dem Krieg ging er nach Düsseldorf und zog 1954 in die DDR. Dort arbeitete er bei der SED-Zeitung „Neues Deutschland“, für die er auch als Korrespondent in Frankreich tätig war. In den 90er Jahren berichtete er Schülern von seinen Erlebnissen als Zeitzeuge. Schließlich engagierte er sich zehn Jahre lang in der „Initiative gegen Abschiebehaft“. Dabei besuchte er auch Serafim Manhice. In einem Artikel schreibt er über ihn: „Ein aus Mosambik stammender ehemaliger Vertragsarbeiter, ein freundlicher, gut deutsch sprechender Mann, Serafim Manhice, mußte kürzlich zum Zahnarzt gefahren werden. Beide Hände waren ihm mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt worden. So sollte er sich auch auf den Behandlungsstuhl legen. Er konnte dem Arzt nicht einmal zeigen, welcher Zahn entzündet war. Als seine Bitte, ihm doch für einen Augenblick die Fesseln abzunehmen, abgelehnt wurde, weigerte er sich, unter diesen Umständen behandelt zu werden.“ Gerhard Leo knüpfte schließlich für Serafim den Kontakt zur Kirchenasylbewegung. Zwischenzeitlich erhielt er auch Unterstützung von Grenzübertritte.

Gerhard Leo ist am 27. September 2009 gestorben. „Sein unermüdlicher Einsatz für mehr Menschlichkeit und die Rechte von Flüchtlingen wird uns stets Vorbild bleiben“, so die Initiative gegen Abschiebehaft auf ihrer Homepage.

Nicolaus Raßloff



Quellen

Gregor Eisenhauer, „Gerhard Leo (Geb. 1923)“, Tagesspiegel, 20.11.2009, www.tagesspiegel.de/berlin/Nachrufe;art127,2954265

Hans Coppi (Vorsitzender Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten), „In Erinnerung an Gerhard Leo (8. Juni 1923 - 14. September 2009)“, 23. Okt. 2009, www.asf-ev.de/aktuelles/nachrichten/2009/in_erinnerung_an_gerhard_leo_8_juni_1923_14_september_2009/

Heike Kleffner, „Das Engagement eines Geretteten“, taz Berlin, Nr. 7016 vom 28.3.2003
www.asf-ev.de/aktuelles/nachrichten/2009/in_erinnerung_an_gerhard_leo_8_juni_1923_14_september_2009/das_engagement_eines_geretteten/

Peter Rau, „Ein Stück Weltgeschichte, Nachruf auf den deutsch-französischen Antifaschisten Gerhard Leo“, junge welt 7.10.2009, S.15, www.jungewelt.de/2009/10-07/041.php
Christina Matte, „Chevalier Leo - félicitations!“, Neues Deutschland, 21.04.2003 oder 21.02.2004, http://drafd.org/?Presseecho_Ritter_ND

Gerhard Leo, „Das Elend der Abschiebehaft“, ZAG Nr. 38/2001 hg.v. Antirassistische Initiative Berlin, www.zag-berlin.de/antirassismus/archiv/38elend.html

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