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»Wenn ein Fremdling bei euch wohnt ...«
Auszüge aus einer Predigt in der Reihe »G8 in Zion. Gerechtigkeit erhöht ein Volk« im Juli 2007 in der Zionskirche Berlin

Nr. 16: Oktober 2007 >>zurück zur Übersicht?

(33) Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.
(34) Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin Adonaj, euer Gott. (Lev 19,33-34)


Dazu einige aktuelle Begegnungen oder Meldungen:

Eine Kirchengemeinde gibt bekannt, dass die von ihnen im Kirchenasyl geschützte 7-köpfige kurdische Familie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hat. Nach fünf Jahren Kirchenasyl – das jüngste Kind der Familie wurde während dieser Zeit erst geboren – kann die Familie wieder eine eigene Wohnung beziehen und sich frei bewegen.

Eine philippinische Frau sucht für sich und ihren Mann eine neue Bleibe und ein Auskommen. Bisher lebten sie in einem Kellerzimmer bei einer Familie, der die Frau – seit 1991 für unveränderten Lohn – den Haushalt führte und sauber machte. Die Familie zieht nun weg. Für das philippinische Paar stellt sich die Frage nach Wohnung und Arbeit existentieller als für andere, denn sie haben keine gültigen Aufenthaltspapiere.

Per Mail erreicht mich ein Urlaubsfoto aus dem Sudan. Frisch mit deutschem Pass ausgerüstet, ist es dem Reisenden nach vielen Jahren erstmals möglich, seine Familie wiederzusehen. Der deutschen Staatsangehörigkeit ging eine Odyssee durch den Behördendschungel voraus, bis ihm das sogenannte kleine Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt wurde. Erst seitdem kann er nachholen, was ihm in acht Jahren Asylverfahren verwehrt wurde: Weiterbildung, Führerschein, legale Arbeit, eine eigene Wohnung, ein Privatleben mit seiner Freundin, eine Perspektive.

Hinter jedem Beispiel stehen viele Menschen, um die es ähnlich steht. Wie die kurdische Familie leben etwa 180.000 Menschen seit vielen Jahren hier, aus den verschiedensten Gründen hierher gekommen, mit Kindern, die hier geboren oder aufgewachsen sind. Sie sind langjährig geduldet in sogenannten Kettenduldungen. Sie alle hofften auf die kürzlich verabschiedete Bleiberechtsregelung, die nun aber so viele rigide Ausschlusskriterien enthält, dass die wenigsten Familien von ihr werden profitieren können. Insgesamt geht die Tendenz dahin, dass Deutschland und Europa sagt: Wir wollen nicht, dass Menschen dauerhaft hier bei uns bleiben. Vorübergehend ja – die temporäre oder zirkuläre Migration ist wieder einmal en vogue, mit befristetem Arbeitsvertrag sollen Menschen kommen und dann bitte wieder gehen. Dass aber in dieser Zeit Bindungen entstehen, Kinder geboren und Wurzeln geschlagen werden, passt nicht ins Konzept.

Eine andere Gruppe ist die der Flüchtlinge, die hier Asyl beantragt haben, ein Recht, das in unserem Grundgesetz verankert, aber mittlerweile so gut wie ausgehöhlt ist, angefangen bei der sicheren Drittstaatenregelung von 1993. Entsprechend gering sind die Zahlen geworden: rund 21.000 waren es im Jahr 2006, dennoch wurde nur 0,8% von ihnen das Recht auf Asyl gewährt, weitere 4-5% erhielten vorübergehenden Abschiebeschutz. Wer auf die Bearbeitung seines Asylantrags wartet, wird in Sammelunterkünften untergebracht, die sich oft in abgelegen Gegenden oder im Wald befinden, darf den Landkreis nur mit Sondergenehmigung verlassen, darf nicht arbeiten. Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, soll er bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch.
Dann die Gruppe der Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere, eine halbe bis 1 ,5 Millionen Menschen bundesweit werden derzeit geschätzt. Ihre Situation ist am prekärsten, denn auch geltende Grundrechte können aufgrund des Status kaum eingefordert werden. Etwa das Recht auf Gesundheitsversorgung oder das Recht auf Bildung der Kinder. Dass öffentliche Krankenhäuser, Schulen und Kitas zur Denunziation von Menschen ohne Aufenthaltspapiere verpflichtet sind, kritisieren humanitäre und Menschenrechtsorganisationen seit langem. Es soll aber eher noch verschärft werden, so verrät der kürzlich erschienene Prüfbericht des BMI. Ähnlich problematisch sieht es aus bezüglich der Auszahlung des Lohns: Menschen ohne Papiere arbeiten illegal und haben kaum Druckmittel in der Hand, wenn sie um ihren Lohn geprellt werden. Ganze Branchen leben von dieser Ausbeutbarkeit, das Baugewerbe, die häusliche Pflege und Reinigung, die Gastronomie. Wir alle profitieren davon. Zur Zeit kommt eine Diskussion in Gang, ob Gewerkschaften Menschen ohne Papiere in anonymer Form mit vertreten können, um der Willkür zumindest einen gewissen Riegel vorzuschieben. Das lässt hoffen.

Und dann gibt es die große Gruppe all jener, die tatsächlich hier leben und wohnen wie Einheimische unter uns, mit allem was dazugehört. Rund jeder Sechste in Deutschland hat Migrationshintergrund, jede 5. Ehe ist binational und bei jedem 4. Kind gibt es mindestens ein Elternteil nichtdeutscher Herkunft: Die sogenannte 6-5-4-Gesellschaft.

„ Wenn ein Fremdling bei euch wohnt...“Aus welcher Situation stammt dieser Text und in welcher Weise kann er uns inspirieren? Das Heiligkeitsgesetz, dem die beiden Verse entstammen, wurde als vermutlich eigenständig überlieferter Textteil wohl um die Zeit der Wiedererrichtung des Tempels, ab 520 vor Christus, in die Priesterschrift eingeschrieben, einer der Hauptquellen der fünf Bücher Mose. Verfasst sein könnten die Gebote des Heiligkeitsgesetzes im babylonischen Exil. Ein Volk also, das selbst als Minderheit unter Fremdherrschaft lebt, formuliert eine Vision, wie zukünftig im eigenen, verheißenen Land mit Fremden umgegangen werden soll. Das hebräischen Wort „ger“, Fremder, meint hier Ausländer. In älteren Texten steht „ger“ für ortsfremde Israeliten, etwa zur Zeit der Zerstörung des Nordreichs 722 v.Chr, die eine große Fluchtwelle ins Südreich auslöste. Die Gebote über den Schutz von Fremden, die sich zahlreich in der Tora finden, zeugen von Israels eigenen Erfahrungen mit dem Fremdsein, angefangen in Ägypten: Israel weiß, wie es ist, unterdrückt und fremdbestimmt zu leben und auf Barmherzigkeit und Gerechtigkeit angewiesen zu sein. Dieses Bewusstsein kennzeichnet auch das Liebesgebot: du sollst ihn (den Fremden) lieben wie dich selbst, Martin Buber übersetzt: du sollst ihn lieben: er ist wie du. Auch das Leben des anderen ist verletzlich, auch die andere ist Ebenbild Gottes, auch der andere ist Gast auf Gottes Erde, wie ich. Das Land, auf dem wir leben und das zu teilen wir uns schwer tun, ist uns beiden geliehen.

Es geht hier insofern um eine Schulung im globalen Denken. Heute wird immer sichtbarer, wie sehr wir Menschen aufeinander verwiesen sind und aufgefordert sind, uns miteinander als Gäste auf dem selben Planeten zu arrangieren. Die Folgen des Klimawandels sind nur ein deutliches und unübersehbares Signal von vielen. Auch sie lösen weltweit übrigens schon jetzt große Fluchtbewegungen aus.

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