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Buchbesprechung:
Sie suchten das Leben –
Suizide als Folge deutscher Flüchtlingspolitik
Nr. 12: April 2005
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»’Ich
habe viele Dokumente, ich lüge nicht, meine Sachen sind alle wahr! Wenn
ich zurück muss bin ich tot.’ ... Er war fix und fertig und unendlich
traurig – mit den Nerven völlig am Ende«, wie eine Freundin
Herrn Yohannes Alemu auf dessen eigener Beerdigung zitiert. Als 23jähriger
hatte er eine »All Amhara Peoples Organisation« gegründet: »Wir
kämpfen für die Einigung des Landes und das friedliche Zusammenleben
aller Völker in Äthiopien«, so Alemu. Herr Alemu flüchtete
nach Deutschland und lebte hier ein paar Jahre. Nach der Ablehnung seines Asylantrages
sprang er, 27 Jahre jung, von einer Regensburger Brücke in die Donau.
Fein säuberlich lag seine Jacke zusammengefaltet neben dem Geländer.
Ungefähr einen Monat später fand die Polizei die Leiche des Selbstmörders
16 Kilometer Stromaufwärts. Das Geld einer Überführung der Leiche
kam nicht zusammen. »Jetzt als Toter bekommst du Asyl. Auf einem Friedhof
in Bayern«, stand auf einem Kranz an seinem Grab.
Rund ein Dutzend Flüchtlinge, deren letzte Flucht der Freitod war, beschreiben
Heike Herzog und Eva Wälde. Sie haben deren Leben vor und nach der Flucht
sowie den Verlauf der Asylverfahren nachrecherchiert und die persönlichen
Fluchtgründe schließlich in einen politischen Kontext gestellt.
Sie thematisieren die Traumatisierung, die Flucht ohne Ankommen, die riesigen
Hoffnungen auf das Fluchtland Deutschland und die Endstation Abschiebehaft.
In vielschichtigen Details werden besonders die in- und ausländischen
Strukturen der Ungerechtigkeit mit ihren Hierarchien in jeder Richtung deutlich.
Schließlich geht es um den Freitod in Verbindung mit dem polizeilichen Überwachungsapparat.
Der Exitus tritt bei Illegalisierten meistens nicht während oder nach
einer Abschiebung, sondern im indirekten Kontakt mit dem deutschen Staatsapparat
ein: In Deutschland begingen seit 1993 mindestens 111 Flüchtlinge wegen
ihrer drohenden Abschiebung Suizid oder starben bei dem Versuch zu fliehen, »nur« 5
starben bei der vollzogenen Abschiebung (www.berlinet.de/ari: Jährlich
aktualisierte Studie zur »Deutschen Flüchtlingspolitik und ihren
tödlichen Folgen« der Antirassistischen Initiative Berlin.) Wirksam
scheint das selbe Prinzip einer jeden Überwachungskamera, die allein dadurch
funktioniert, dass sie gesehen wird, auch wenn sie vielleicht gar nicht eingeschaltet
ist. Die Angst vor der Abschiebung ist tödlicher als die Abschiebung selbst.
Heike Herzog und Eva Wälde wagen es, stellvertretend für migrantische
Selbst-»mörder« zu schreiben, und treten dabei mit einem hohen
moralischen Gewicht auf. Sie stecken im Dilemma der Autorin oder der Soziologin,
Subjekte zu Objekten zu machen und aus einer höheren Position über
sie zu schreiben. Die Beschreibung komplizierter juristischer Verfahren oder
der Vergleich mit Menschenrechtserklärungen aus New York oder Genf versucht
es deutschen Lesern »recht« zu machen. Dennoch gibt das Buch das
wichtige Zeugnis über den Tod einiger Flüchtlinge, über den
im Einzelfall lediglich eine Hand voll Freunde und Bekannte halbwegs bescheid
wussten. Tatsächlich handelt es sich, was Deutschland betrifft, um ein
bisher nicht ausführlicher beschriebenes Problem. Der Titel »Sie
suchten das Leben« verweist auf eine Haltung, die wahrscheinlich die
meisten Freitoten verbindet, eben die Sehnsucht nach Leben im Kontext tödlicher
Perspektivlosigkeit.
PS: Im Jahre 2002 nahmen sich 11.163 Bio-Deutsche das Leben (www.wikipedia.de).
Sie
suchten das Leben –
Suizide als Folge deutscher Flüchtlingspolitik.
Hrsg. v. Heike Herzog und
Eva Wälde.
reihe antifaschistischer texte – UNRAST Verlag, Herbst 2004.
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